Betr.: Gesellschaft und Politik
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 Erwerbsarbeit
 verliert ihre
 hergebrachte
 Bedeutung
 für die private
 Reproduktion
 
 
 
 

 ..nur noch 
 vierzig Prozent
 aller Einkommen
 wird durch
 Arbeit erlangt.
 
 
 
 

 Den Prozessen
 des sozialen
 Aufstiegs
 haftet mittlerweile
 etwas Willkürliches
 an.
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 Heute bedarf
 es vor allem
 der Distinktionskraft
 des Geldes...
 
 
 
 
 
 
 

 Die gesellschaftlichen
 Verhältnisse bringen 
 anhaltend materielle
 Gründe des
 Neides hervor,
 doch kaum noch
 symbolische Mittel
 seiner rationalen
 Bewältigung.
 
 
 
 
 
 
 

 Der Kapitlaismus
 setzt Millionen
 von Menschen frei,
 die für die
 Herstellung von
 Reichtum
 entbehrlich sind.
 
 
 
 
 
 

 Ungezügelte Wut
 bricht aus:
 Verzweiflung über
 sich selbst,
 wahlloser Haß
 entladen sich
 im alltäglichen
 Bürgerkrieg
 von Zerstörung 
 und Selbstdestruktion
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Die Kultur
des neuen
Kapitalismus
und die Klasse der zivilisatorisch Unbehausten

  (...) während die realen Arbeitseinkommen seit Anfang der neunziger Jahre im Durchschnitt allenfalls gleich geblieben sind, schnellten Aktiengewinne, die ohne Leistung entstehen, sondern ein Risiko prämiieren, an den Börsen in ungeahnte Höhen. Die Mittelklassen verdanken ihren Lebensstandard zunehmend dem Kapitalvermögen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten als Guthaben, Aktien und Sachwerte ansammeln konnte.
  In dem Maße, wie Erträge nicht durch Leistung, sondern durch Vermögen entstehen, verliert die Erwerbsarbeit ihre hergebrachte Bedeutung für die private Reproduktion. Nur noch vierzig Prozent  aller Einkommen in Deutschland werden gegenwärtig durch Arbeit erlangt, der Rest verteilt sich auf staatliche Transfers und privaten Vermögenserlös. (...)
  Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird weitgehend ersetzt durch Versorgung oder riskanten Vermögenseinsatz - beides Vorgänge, die sich von meritokratischen Regeln wesentlich unterscheiden.
  Dies zeigt sich deutlich am Beispiel der Erbschaftswelle, die unser Land überrollt. (...) Erbschaften ermöglichen Vermögensgewinne, heben das Niveau der Lebensführung entscheidend an, lassen Rücklagen auf schlechte Zeiten entstehen und gewähren schließlich, die Ausstattung des eigenen Status problemlos an die Nachkommen zu übertragen. (...) Dieser mühelose Vermögenserwerb unterläuft das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, ist jedoch als verfassungmäßiges Recht nicht verhandelbar, obgleich er in der Gesellschaft ein Gefühl des ungerechtfertigten Vorteils hinterläßt - zumal in Zeiten, wenn andere vielfach um ihre Existenz kämpfen müssen.
  Den Prozessen des sozialen Aufstiegs haftet mittlerweile etwas Willkürliches an, und zwar nicht nur denen, die auf Erbschaften beruhen. (...) Vom jungen Börsenmakler, von den Trendsettern in Mode und Popkultur bis zu den Medienstars ist sozialer Aufstieg nicht unbedingt als Resultat besonderer Kompetenz zu begeifen. (...) Dieser neue Typus des Aufsteigers entbehrt oft jeder Begründung, außer eben: erfolgreich gewesen zu sein. Erfolg ist jedoch keine Leistungskategorie. Er kann, braucht aber nicht auf Leistungen zu basieren. Heute bedarf er vor allem der Distinktionskraft des Geldes.
  Wenn Risisko, Erfolg und Vererbung den Leistungsgedanken ersetzen und außergewöhnlich ertragreich sind, bleiben Neidgefühle bei denjenigen kaum aus, die sich für die moderne Lebenskunst nicht hinreichend geeignet zeigen. (...)
  Welche Auswege sich diese Neidgefühle suchen, hängt von den Deutungen ab, die in den unteren Klassen über soziale Gerechtigkeit existieren. Die alte Forderung der sozialen Proteste, der Verteilung von Lebenschancen an der Leistungsgerechtigkeit von Arbeit zu messen, werden viele künftig kaum noch aufgreifen können - mangels Gelegenheit und mangels Ertrag. Auch versperrt uns die Individualisierung in der modernen Gesellschaft zunehmend die Möglichkeit, soziale Ungleichheit noch in den Kategorien kollektiver Klassenlagen zu interpretieren. Diese mögen zwar objektiv vorliegen, Individualisierung jedoch hat vor allem eine symbolische Dimension: Sie legt uns nahe, die Verteilung sozialer Chancen dem Individuum und seiner Biographie zuzurechen.
  So bringen die gesellschaftlichen Verhältnisse anhaltend materielle Gründe des Neides hervor, doch kaum noch symbolische Mittel seiner rationalen Bewältigung. Er wird zivilisatorisch unbehaust gelassen. In der Folge enstehen neben dem Neid andere Emotionen, die sozial ungleich zerstörerischer sind.
  Der Kapitalismus alter Prägung bestand aus Ausbeutungsverhältnissen. Heute jedoch setzt er Millionen von Menschen frei, die für die Herstellung der Reichtums gar nicht nötig sind. Die Produktion "entbehrlicher Klassen" läßt immer größere Gruppen mit ihren Gefühlen des Mangels und des "Wenigerseins" in tragischer Weise zurück. Sie nehmen zwar an der populären Kultur teil, können sich aber deren Erzeugnisse und Statussymbole nicht leisten. (...)
  Der typische Gefühlsausdruck dieser Lage ist kaum noch mit Neid zu bezeichnen, weil man im sozialen Nahraum seiner Vergleichsmöglichkeiten weitgehend beraubt worden ist. Sozialforscher beobachten deshalb allenthalben, daß in diesen Mileus ungezügelte Wut ausbricht - über die eigene Innenwelt wie die äußere Wirklichkeit, denen gleichermaßen ein Gefühl des Ausgeliefertseins existiert. "Verzweiflung über sich selbst", wie Pierre Bourdieu die Gefühlslage der Ausgeschlossenen nannte, und wahlloser Haß entladen sich im alltäglichen Bürgerkrieg von Zerstörung und Selbstdestruktion. (...)
  Wut dokumentiert, daß unter Druck sozialer Randständigkeit die Last einer Affektkontrolle nicht mehr aufgebracht werden will. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, daß der Kapitalismus, der sukzessive Arbeit abschafft, auch seine zivilisatorischen Eigenschaften verliert, die er selbst noch in den kollektiven Symbolen besaß, mit denen sich die unteren Klassen ihrer Neidgefühle behalfen.
  Die "entbehrlichen Klassen" verwandeln sich heute in das alte Schreckbild zurück, das die bürgerliche Ordnung in den "gefährlichen Klassen" schon des frühen 19. Jahrhunderts besaß. Wie am Anfang der industriellen Gesellschaft setzt auch an ihrem Ende der überschüssige Teil der Bevölkerung das letzte Kapital ein, mit dem sich noch wuchern läßt: die Welt in Unordnung zu stürzen, die Gesellschaft friedlos zu stellen.
(aus DIE ZEIT, 8.7.1999, Sieghard Neckel, Soziologe, UNI Siegen)

 





Frankfurt (AP) - Die Deutsche Bank hat Christoph Schlingensief von dem Auftrag entbunden, ein Stück mit dem Titel "Rettet den Kapitalismus" zu erarbeiten. Die Premiere (...) anläßlich einer Tagung der Alfred Herrhausen-Gesellschaft Berlin, finde nicht statt. Schlingensief, Enfant terrible der deutschen Theaterregie, hatte zuvor angekündigt, 100.000 Mark in Zehn-Mark-Scheinen vom Reichstagsgebäude fliegen zu lassen. (...) Das Motto laute: "Rettet den Kapitalismus - schmeißt das Geld weg." (Quelle: SZ, 1.7.1999)
 
 


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