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 last update: boa München, Fr. 03.05.2002 - 14:00 
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Fr. 03.05.2002      

Gewalt, die gesellschaftlich besteht, kann man nicht ausblenden

Amoklauf in Erfurt entfacht Debatte über Gewalt in den Medien

Forscher sehen keinen kausalen Zusammenhang zwischen Medienkonsum und gewalttätigem Handeln. Verstärkende Wirkung der Medien wird jedoch nicht bezweifelt. Amokläufer von Erfurt war fasziniert von Gewalt.

Bei der Jagd nach hohen Einschaltquoten im Fernsehen ist die Gewaltschwelle
     gesenkt worden. Medienforscher: Problematisch ist, wenn Gewalt als
     erfolgversprechendes legitimes Mittel gezeigt wird.
§ 131 Gewaltdarstellung
Zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Sendern wurde Runder Tisch
     vereinbart, der Kodex für den Umgang mit Gewaltdarstellungen erarbeiten soll.
     ARD-Programmdirektor: Verzicht auf Gewaltdarstellungen könne es nicht geben.
     Gewalt, die gesellschaftlich besteht, könne man nicht ausblenden.
Medienexpertin Helga Theunert: "Wie soll man sicher sagen können, daß die
     bildlich präsentierte mediale Gewalt den Ausschlag für Gewalttätigkeiten eines
     Menschen in der Wirklichkeit gegeben hat?"
Der Amokläufer von Erfurt: Abgeglitten in eine eigene künstliche Welt der Gewalt.
Medienpädagogische Handreichungen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Gewaltschwelle ist gesenkt worden

Fr.03.05.02 - Der Amoklauf in Erfurt hat die alte Debatte über Gewalt in den Medien und vor allem im Fernsehen neu entfacht. Anders als an vielen Stammtischen geht die Medienforschung jedoch nicht so weit, einen kausalen Zusammenhang zwischen Medienkonsum - also bestimmten Computerspielen oder Sendungen - und gewalttätigem Handeln herzustellen. Sprich: Nicht jeder, der gewaltverherrlichende Videospiele liebt, wird die dort erlebte Gewalt im Alltag ausleben.

"An der verstärkenden Wirkung der Medien ist jedoch nicht zu zweifeln. Wenn zum Beispiel Menschen persönliche Probleme mit Gewalt haben, können Medien diese noch stärker machen», sagt Helga Theunert, wissenschaftliche Direktorin am "JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis" in München.

Unstrittig ist, dass bei der Jagd nach hohen Einschaltquoten im Fernsehen immer mehr Gewalt gezeigt wird. "Die Gewaltschwelle ist gesenkt worden", stellt Helga Theunert fest. "Auch im 'Tatort' werden heute Leichen in allen Details gezeigt". Der Action- und Krimiboom auf allen Kanälen hat für Maya Götz vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) in München gesellschaftliche Folgen: "Das Fernsehen hat immer auch Symbolwert. Die Frage ist also, wie viel Brutalität wir zulassen." Die Medienforscherin wirft den Sendergewaltigen vor, andere Formate gar nicht mehr auszutesten. "Es funktioniert nach Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Die Verantwortlichen sagen, dass Action gern gesehen wird, also probieren sie auch nichts anderes." Der Erfolg von Quizsendungen im vergangenen Jahr habe aber gezeigt, dass es Alternativen gebe.

Gerade im Fernsehen ist nach Ansicht Theunerts wichtig, wie Gewalt dargestellt wird und ob es eine Distanzierung von der Gewalt gibt. "Problematisch ist, wenn Gewalt als erfolgversprechendes legitimes Mittel gezeigt wird." Dies kann nicht nur in Actionfilmen oder Krimis der Fall sein, sondern auch in Zeichentrickfilmen oder Talkshows. Friedrich Krotz von der Universität Münster sieht gerade bei bestimmten Daily-Talk-Formaten, in denen Menschen "vorgeführt" oder mit ihren ärgsten Feinden konfrontiert werden, eine Art von "struktureller Gewalt".

Eine vor wenigen Wochen in den USA veröffentlichte Langzeit-Studie der Columbia University in New York geht noch weiter. Die Forscher kamen nach der Beobachtung von 707 Familien über einen Zeitraum von 17 Jahren zum Ergebnis, dass täglich mehrstündiges Fernsehen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Dauer einen Hang zu gewalttätigem Verhalten fördere. Dieser Zusammenhang sei unabhängig von anderen Faktoren wie elterlicher Vernachlässigung im Kindesalter, Familieneinkommen und -stand sowie psychologischen und psychiatrischen Störungen nachweisbar.

In Deutschland betonen die Experten, dass nicht alle Medien über einen Kamm geschoren werden dürften. "Das Fernsehen ist nicht mit Computerspielen vergleichbar", sagt Theunert. "Bei Ego-Shooter- Spielen wird der Konsument selbst zum Täter." Ihr Kollege Krotz pflichtet ihr bei: "Wenn ich beim Computerspiele Menschen töte, ist es eine Art Sport. Wenn ich einen Hollywood-Film anschaue, dann sehe ich die Leute leiden oder sterben."
 
 

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§ 131 Gewaltdarstellung

(1) Wer Schriften (§ 11 Abs. 3), die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt,

1. verbreitet,

2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht,

3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder

4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk verbreitet.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient.

(4) Absatz 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt.
 
 


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Runder Tisch soll Kodex gegen Gewalt erarbeiten

Fr.03.05.02 - Der zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Sendern vereinbarte Runde Tisch soll einen Kodex für den künftigen Umgang mit Gewaltdarstellungen vorlegen. Spitzenvertreter von ZDF und ARD machten am Freitag in Interviews deutlich, dass sie bei ihren Sendern keine großen Korrekturen für notwendig halten.

ZDF-Intendant Markus Schächter sagte im Morgenmagazin des Senders, das ZDF werde einen solchen Konsens vorlegen, der mit den Fernseh- und Videoanbietern diskutiert werden solle. Angesichts der Ereignisse in Erfurt solle es "keine Schuld- oder Frontdiskussion" geben. Aber zur Tagesordnung könne man nicht einfach übergehen.

Das ZDF habe gründliche Erfahrungen beim Jugendschutz gemacht und aus den Gewaltdiskussionen so viel gelernt, "dass wir hier keinen großen Korrekturbedarf haben". In der nächsten Runde beim Bundeskanzler solle es vorrangig um die Konsequenzen für junge Zuschauer im Hinblick auf das Zusammenwirken von Internet und Video gehen, sagte Schächter.

ARD-Programmdirektor Günther Struve sagte im Berliner Sender Radio Eins, es habe beim Mediengipfel am Vorabend "im Großen und Ganzen" Konsens geherrscht, einen Kodex zu erstellen. Struve verwies darauf, dass es weder im Internet noch bei Videospielen Kontrollmechanismen wie in den Medien gebe. Das Fernsehen wolle aber nicht ins Internet eingreifen. Gewaltdarstellungen seien in der ARD immer dramaturgisch begründet und die Konsequenzen würden stets aufgezeigt. Einen Verzicht auf Gewaltdarstellungen könne es nicht geben. "man kann ja Gewalt, die gesellschaftlich besteht, nicht ausblenden", sagte Stuve.
 
 

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Mediale Wirklichkeitsverstärker

"Wie soll man sicher sagen können, daß die bildlich präsentierte mediale Gewalt den Ausschlag für Gewalttätigkeiten eines Menschen in der Wirklichkeit gegeben hat?...Ich würde nie den Begriff der Ursache oder des Auslösers verwenden. Das hieße ja: Hier ist der Grund, weshalb etwas passiert. Im Leben eines Jugendlichen, der Amok läuft, muß wahnsinnig viel passiert sein, damit sämtliche Hemmschwellen ausgeschaltet werden. Da können die Medien nicht Auslöser sein, das ist schon die Wirklichkeit. (...) Die heutigen Medienwissenschaftler sind sich einig, daß Medien eine Verstärkerfunktion haben. Nun kann man sagen: Die Medien verstärken nur , was in der Wirklichkeit vorhanden ist; oder man kann sagen, die Medien verstärken immerhin. Ich sage immerhin. Und deswegen ist es notwendig, Medienpädagogik zu betreiben. (...) Das beginnt im Elternhaus, Medienerziehung muß zu Hause stattfinden. Es muß weiter gehen im Kindergarten. Das ist leider ein Problem, weil dort viele Pädagogen sagen: Wir wollen diese ganzen Mediengeschichten von unseren Kindern fernhalten. Die haben sie zu Hause genug. Doch gerade diese Leute wären in der Lage, Medienkompetenz in spielerischen Formen zu fördern. Es muß dann weitergehen in der Schule, auch ein trauriges Kapitel. Je höher die Schulstufe, desto weniger wird sinnvoll mit Medien gearbeitet. Die Zeitungsanalyse allein ist nicht mehr der Weg, um heutige Jugendliche medienkompetent zu machen. Und dann gibt es noch die außerschulische Medienarbeit. Das ist ein Weg, der sehr erfolgreich ist. (...) Es gibt bei den Heranwachsenden eine große Diskrepanz zwischen dem, was in der eigenen Wirklichkeit als Gewalt wahrgenommen wird und dem, was man in den Medien goutiert. Wir müssen darauf achten, daß dem Jugendlichen bewusst bleibt, was Film und was Wirklicheit ist."

Helga Theunert, Direktorin am "JFF - Institut für Medienpädagogik", in einem SZ-Interview vom 03.12.1999
 

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JFF - Institut für Medienpädagogik:
http://www.jff.de

Medienpädagogische Handreichungen für Video- und Computerspiele,
Datenbanken zum Thema Medienkompetenz
Information unter: http://www.bpb.de/publikationen/html/body_medien-beschreibung.html
 
 

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Abgeglitten in eine eigene künstliche Welt der Gewalt

Update: So.05.05.02 - Der Amokläufer von Erfurt war nach Darstellung seiner Eltern schon seit Jahren in eine eigene, künstliche Welt der Gewalt abgeglitten, in der sie nicht mehr an ihn herankamen. "Es ging immer ums Schießen, es ging immer um Gewalt", sagte sein Vater dem "Spiegel".

Robert Steinhäuser war nach Aussage seiner Mutter wie besessen von Computerspielen. "Er saß immer vor dem Computer, das war wie eine Sucht", sagte sie. Einmal habe sie aus Verzweiflung alle Kabel aus den Wänden und Geräten gerissen. Als "grauenhaften Fehler" bezeichnete sie es in der ersten ausführlichen Stellungnahme der Familie nach dem offenen Brief, dass sie ihren Sohn nach der fünften Klasse aufs Gymnasium schickt.

Obwohl Robert Steinhäuser schon ein halbes Jahr von der Schule verwiesen war, ließ er sich nach Darstellung seiner Eltern jeden Morgen wecken, nahm seine Pausenbrote und gab vor, zur Schule zu gehen. Als die Familie am Mittag nach dem Massaker den Sohn vermisste, sei der Bruder in Roberts Zimmer gegangen, das aufgeräumt gewesen sei wie sonst nie. Dort habe er eine Reisetasche voller Munition und auf dem Schreibtisch die Rechnungen für den Waffenkauf gewesen. Das sei wie ein Abschiedsbrief gewesen.

Mehr in dem taz- Bericht "Eine schrecklich normale Familie", im Internet abrufbar unter: http://www.taz.de/pt/2002/05/06/a0118.nf/text.name,askxOQbwH.n,0
 
 

(Quellen: ap, dpa, sz, boa-archiv)

 
 

Mo.29.04.02
Nach Amoklauf in Erfurter Gymnasium: Politiker wetteifern mit schnellen Antworten
Experten warnen vor einfachen Lösungen. Ehemaliger Schüler hatte am Freitag in Erfurter Gymnasium 16 Menschen und sich selbst getötet.
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Nach dem Amoklauf von Erfurt
Die Debatte um die Mitschuld der Medien. Von Günter Müchler und Christina Janssen
Eine Hörfunfunksendung des Deutschlandfunks (Hintergrund Politik)
vom 3.5.2002 • 18:40. Das Sendemanuskript ist im Internet abrufbar unter: http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-hintergrund/599.html

Mi.08.05.02
GEW-Vorsitzende: Leistungsdruck an Schulen führt zu enormen Versagungsängsten
Als Konsequenzen aus dem Erfurter Amoklauf fordert Stange grundlegende Änderung des Schulsystems.
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Do.10.05.02
Bundesregierung plant schärfere Auflagen für Videos und Computerspiele
Als Reaktion auf die Bluttat von Erfurt beschloss das Kabinett eine Neuregelung des Jugendschutzes. Wissenschaftler sehen Zusammenhang zwischen gewalttätigen Computerspielen und Aggressionen.
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